Kriegsausbruch
Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs schrieb Ernst Ludwig Kirchner an einen Bekannten: „Das Bild ist 1914 in Berlin entstanden, als Tag und Nacht die schreienden Militärzüge unter meinem Fenster vorbeifuhren“. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges war für Kirchner ein Schock. Er befand sich mit seiner Freundin Erna Schilling auf der Insel FMehr

Kriegsausbruch
Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs schrieb Ernst Ludwig Kirchner an einen Bekannten: „Das Bild ist 1914 in Berlin entstanden, als Tag und Nacht die schreienden Militärzüge unter meinem Fenster vorbeifuhren“. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges war für Kirchner ein Schock. Er befand sich mit seiner Freundin Erna Schilling auf der Insel Fehmarn und wurde bei der vorzeitigen Rückkehr nach Berlin aufgrund der wachsenden Spionageangst irrtümlich zweimal festgenommen – dies, so kommentierte er später, „gab uns einen Vorgeschmack auf Krieg“. Kirchner hatte panische Angst vor Uniformierten, ging nur nachts aus dem Haus, betäubte sich mit Alkohol.

Der Außenseiter
Die Gestaltung von Kirchners Atelier spiegelt seine Distanz zur wilhelminischen Gesellschaft wieder. Der opulente Morgenmantel und der ornamentale Teppich erinnern noch an bessere Zeiten mit antibürgerlichen Festen. Nun stehen sie im Kontrast zu der düsteren Stimmung des Bildes. Das große Absinthglas erlaubt mehrere Deutungen. Vorrangig zeigt es, dass der Trinker sich betäuben möchte. Das Gefäß könnte aber auch den Kelch Christi symbolisieren. Kurz vor der Kreuzigung bat Christus im Garten Gethsemane seinen Vater darum, er solle „diesen Kelch“ – das Todesopfer – an ihm vorübergehen lassen. Vielleicht steht der Kelch also auch für Kirchners Todesangst, ausgelöst durch den Kriegsausbruch.

Kunst in Krisenzeiten
Trotz aller Sorgen meldete Kirchner sich freiwillig zum Kriegseinsatz. Im Frühjahr 1915 wurde er Rekrut, ertrug den Drill aber nur wenige Monate. Die Nachrichten vom Tod mehrerer Freunde trafen ihn schwer. Der Künstler verfiel in eine tiefe Krise. Seine Alkoholkrankheit erschwerte die Situation zusätzlich, sodass er schließlich nicht an die Front geschickt, sondern in ein Sanatorium verlegt wurde. 1916 schrieb Kirchner: „Schwerer als alles andere lastet der Druck des Krieges und die überhandnehmende Oberflächlichkeit. Ich habe immer den Eindruck eines blutigen Karnevals (...). Trotzdem versuche ich (…) aus dem Verworrenen ein Bild der Zeit zu schaffen, was ja meine Aufgabe ist.“

Weniger
Titel
Der Trinker (Selbstbildnis)
Allgemeine Bezeichnung
Gemälde, Selbstporträt
Inventarnummer
Gm1667
Sammlung
Kunst u. Kunsthandwerk 20. u. 21. Jh.
Anzahl der Teile
1
Herstellungsort
Berlin
Herstellungsdatum
1914
Hersteller
Kirchner, Ernst Ludwig (deutsch) GND AKL
Maße
H. 119,5 cm; B. 90,5 cm; mit Rahmen: H. 140,5 cm; B. 108,5 cm; T. 5,5 cm
Material und Technik
Öl auf Leinwand
Kommt in Guide vor
303716
Beschreibung
Einblick in einen Atelierraum von leicht erhöhtem Standpunkt aus, links am Rande sitzend Kirchner an rundem Tisch.- Die hintere Atelierwand blau mit roten Figuren, davor von rechts hinten nach links vorn eine Eckbank, bedeckt mit blauem Tuch, auf der vorderen linken Ecke der Bank sitzt K. Der runde Tisch in verschobener Perspektive oval in die linke obere Ecke gedehnt, Farbe gedecktes rot, auf dem Tisch ein giftgrünes Glas mit gelbem Inhalt. Rechts vor dem Tisch und dessen kantigem Standsockel zwei gemusterte Teppiche, deren hellerer die Sitzecke des Raumes auslegt, deren dunklerer offenbar den gesamten Raum bedeckt. K. sitzt mit dem Körper im Profil, den Kopf ins verlorene Profil nach vorn gewandt, die linke Hand ruht auf dem Tisch, die rechte geht geöffnet nach vorn herab. Blaues Gewand mit rot-weiss-blau gestreiften Borten, dunkle Hose, schwarze, hochhackige Schuhe.Oberfläche einwandfrei, alte Hinterklebung und entsprechende englischrote Retusche von Kirchner selbst in der Ecke zwischen Tischoval und oberer Kante der Bank (re. o. im Bild).
Vermerk am Objekt
Beschriftung: E. L. Kirchner Der Trinker (Rückseite, Pinsel, blau)

Vitrinentext
Das Selbstbildnis Kirchners als Trinker zählt zu den bedeutendsten Zeugnissen eines Avantgarde-Künstlers aus den Jahren des Ersten Weltkriegs. In Anlehnung an sein männliches Modell, den afrikanischen Artisten Sam, und asiatische Mode betont Kirchner seine bisherige gesellschaftliche Randposition, deren Freiheit von der Wehrpflicht bedroht wird. Das giftgrüne Absinthglas, das vor seinen Augen schwebt, erinnert an den Kelch Christi. Es verkörpert die Hoffnung auf ein Abwenden des Schicksals. Miene und Körperhaltung Kirchners verraten jedoch Resignation, und selbst im vertrauten Atelierraum kippt die Perspektive nach allen Seiten.

This painting is ranked as one of the leading avant-garde works of the First World War. By referencing to his male modell, the African performer Sam, and Asian fashion, Kirchner emphasizes his position on society’s margin, his freedom now threatened by conscription. The knoxious green absinth glass before his eyes recalls Christ’s chalice, embodying the hope of evading fate. Yet Kirchner’s expression and posture betray his resignation, and even in the trusted space of his studio, the lines of perspective tilt.

Ernst Ludwig Kirchner, Gründungsmitglied der Dresdner Künstlergemeinschaft "Brücke", schrieb zu seinem bei Anbruch des Ersten Weltkrieges gemalten "Trinker": "Das Bild ist 1914 in Berlin entstanden, als Tag und Nacht die schreienden Militärzüge unter meinem Fenster vorbeifuhren". Während unter Kirchners Atelier die nationalistisch verblendete Zeit zum Kampf um Weltmacht und dabei zu ihrer eigenen Vernichtung aufbrach, stellte er sich selbst resignierend und mit dem giftgrünen Glas zugleich als Spiegelbild des tödlichen Wahns dar.

Literatur
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Gordon, Donald E.: Ernst Ludwig Kirchner. Mit einem Katalog sämtlicher Gemälde. München 1968, S. 107--108, 109, Farbtaf. XVI, S. 336, Nr. 428.
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Weikop, Christian: Avatare und Atavismus. Ernst Ludwig Kirchners Begegnungen mit Afrika. In: Beisiegel, Katharina (Hrsg.): Ernst Ludwig Kirchner. Erträumte Reisen. Ausst.-Kat. Bundeskunsthalle Bonn. München 2018, S. 114-116, Tafel 58, Detail-Abb. S. 98. Link zur Bibliothek
Röske, Thomas: "Umformung des eigenen Lebens." Kirchners Krisenzeit und ihre Bilder. In: Beisiegel, Katharina (Hrsg.): Ernst Ludwig Kirchner. Erträumte Reisen. Ausst.-Kat. Bundeskunsthalle Bonn. München 2018, S. 244, Abb. S. 245. Link zur Bibliothek
Lloyd, Jill und Staggs, Janis (Hrsg.): Ernst Ludwig Kirchner. Ausst.-Kat. Ronald S. Lauder Neue Galerie New York, Prestel-Verlag München, London New York 2019, S. 25, S. 103, Abb. S. 14, S. 103. Link zur Bibliothek